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Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: In einem mittelständischen Unternehmen der Chemieindustrie nehmen etwa 50 Mitarbeitende in einem großen Raum an einer Schulung zum Umgang mit gefährlichen Chemikalien teil. Die vierteljährlichen Veranstaltungen dauern jeweils vier Stunden. Der Produktionsleiter liest die Handlungsanweisungen vor und wirft PowerPoint-Folien an die Wand. Nach 60 Minuten beginnen die Gedanken der Teilnehmenden abzuschweifen ... 

Viele Unternehmen kennen solche Situationen, vor allem wenn sie zu Gefahrstoffunterweisungen verpflichtet sind, etwa durch das britische Gesetz zu gesundheitsgefährdenden Stoffen am Arbeitsplatz COSHH oder die europäische Chemikalienverordnung REACH.Alle Mitarbeitenden, die mit gefährlichen Chemikalien in Kontakt kommen könnten, müssen ausreichende Informationen, Anleitungen und Schulungen erhalten. Aber wird das oben geschilderte Szenario dieser Verpflichtung gerecht? Könnte man die Schulung nicht anders gestalten, damit bei allen ein sicheres Verhalten verankert wird? Für Unternehmen, die nach Performance Sustainability streben, indem sie Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken steuern, ist es unerlässlich, von einer oberflächlichen Einhaltung zu sichererem Verhalten überzugehen. Doch wie kann man die Motivation der Mitarbeitenden steigern, Lerninhalte abspeichern und die Konzentration aufrechterhalten?  

Fallstricke konventioneller Gefahrstoffschulungen 

Die Methoden von Gefahrstoffunterweisungen sind so vielfältig wie die Unternehmen, in denen sie stattfinden. Bei manchen ist es gängige Praxis, dass Vorgesetzte den Mitarbeitenden einfach Handlungsanweisungen zum Durchlesen aushändigen. In anderen Unternehmen werden lange Vorträge in überfüllten Besprechungsräumen gehalten. Was haben diese beiden Methoden gemeinsam? Erstens sind sie nicht gesetzeskonform. Zweitens sind sie ineffektiv. So können die Mitarbeitenden weder Lerninhalte behalten noch im Berufsalltag ein sicheres Arbeiten gewährleisten. Wir erläutern, warum diese Methoden nicht wirken. 

 

Laut der Behaltenskurve von Hermann Ebbinghaus ist es für das Behalten von Informationen entscheidend, wie wir lernen: 

Wenn Vorgesetzte die Handlungsanweisungen einfach nur vorlesen, liegt die Behaltenswahrscheinlichkeit bei 20 %. Lesen die Mitarbeitenden die Anweisungen selbst, steigt sie auf 30 %. Schulungen mit PowerPoint-Präsentationen vereinen visuelle und auditive Eindrücke und erhöhen die Behaltensquote auf bis zu 45 %. Das ist jedoch immer noch weit von einer wünschenswerten Wissensbasis entfernt. Durch Wiederholungen kann die Behaltensquote auf 70 % erhöht werden, durch interaktive Teilnahme lassen sich sogar 92 % erreichen. 

Dass ausgedehnte, nur einmal jährlich stattfindende Schulungen wenig effektiv sind, liegt auch am limbischen System des Menschen. Wir sind nicht in der Lage, uns länger als 55 Minuten voll zu konzentrieren, weshalb Teilnehmende während langer Schulungen oft mental abschweifen. Dieses Phänomen wurde von Hermann Ebbinghaus in seiner Vergessenskurve beschrieben: 

Sowohl die Vergessens- als auch die Behaltenskurve zeigt, dass lange PowerPoint-Präsentationen typischerweise zu einer Behaltensquote von weniger als 45 % führen. Aufgrund der lebenswichtigen Bedeutung von Schulungen zum sicheren Umgang mit gefährlichen Chemikalien ist dieses Ergebnis alles andere als zufriedenstellend. 

Neue Wege zum Abspeichern von Schulungen im Langzeitgedächtnis 

Gemäß den gesetzlichen Anforderungen müssen Gefahrstoffschulungen Informationen zu den spezifischen Risiken jedes Arbeitsplatzes liefern. Stundenlange PowerPoint-Präsentationen mögen zwar diesen Verpflichtungen entsprechen, doch angesichts der Forschungserkenntnisse zur Wissensspeicherung sollte ihre Wirksamkeit hinterfragt werden. 

Im Hinblick auf das Ziel, Menschen für die potenziellen Gefahren von Chemikalien zu sensibilisieren und sicherere Praktiken zu fördern, müssen wir herkömmliche Ansätze überdenken. Wie immer gibt es keine Patentlösung. Anhand der folgenden Methoden können Sie Ihren Ansatz jedoch optimal auf die Lerninhalte und die Zielgruppe Ihres Unternehmens abstimmen. 

Sicherheitsbriefings 

Regelmäßige Sicherheitsbriefings bieten die Möglichkeit, Risiken und Schutzmaßnahmen für einzelne Gefahrstoffe, z. B. Sauerstoff, oder Gefahrstoffkategorien, z. B. ätzende Stoffe, zu behandeln. Um eine Informationsüberflutung zu vermeiden, die den Vergessensprozess beschleunigt, sollten Sie die Briefings möglichst kurz halten. Ein Blick auf die Behaltenskurve zeigt, dass Sie die Behaltensquote auf rund 70 % steigern können, wenn Sie Informationen über den Umgang mit gefährlichen Chemikalien wiederholen. 

Die Einführung eines interaktiven Elements erhöht die Wirksamkeit weiter, sodass das Gelernte zu fast 95 % im Gedächtnis bleibt. Einfaches Fragenstellen führt mit der größten Wahrscheinlichkeit dazu, dass sich die Teilnehmenden mit dem Thema kritisch auseinandersetzen und dass sie wesentliche Informationen verarbeiten und abspeichern.

Auch wenn Ihr Unternehmen gemäß den geltenden Vorschriften eventuell nicht dazu verpflichtet ist, empfiehlt es sich, sämtliche Sicherheitsunterweisungen sorgfältig zu dokumentieren. Die Dokumentation gilt im Rahmen der Gesundheitsschutz- und Sicherheits-Compliance als bewährte Praxis. Zudem dient sie als Nachweis, dass Unternehmen der Verpflichtung nachgekommen sind, ihre Mitarbeitenden über potenzielle Gefahren und die entsprechenden Maßnahmen zur Risikominderung aufzuklären. 

Vorlage für Sicherheitsbriefings 

Die folgenden Vorlage unterstützt Sie bei der Strukturierung wirksamer Sicherheitsbriefings zu gesundheitsgefährdenden Stoffen: 

1. Was ist das Thema der Unterweisung?

Beispiel: Genaue Identifizierung eines Gefahrstoffs oder einer Gefahrstoffgruppe 

2. Was ist bei der Arbeit mit dem Gefahrstoff bzw. der Gefahrstoffgruppe zu beachten? 

Beispiel: Gesundheitsgefahren, Umweltrisiken usw. ansprechen 

3. Welche Gefahren sind mit dem Stoff verbunden? 

Beispiel: Konkrete Gefährdungsbeurteilung anhand von offiziellen Risikobewertungen, Sicherheitsdatenblättern und Betriebsanweisungen 

4. Wie lassen sich die Gefahren am Arbeitsplatz vermeiden? 

Beispiel: Aufzeigen von Schutzmaßnahmen gemäß eigener Praxis, Abgleich mit den Schutzmaßnahmen aus Risikobewertungen, Sicherheitsdatenblättern und Betriebsanweisungen 

5. Festlegung der Vorgehensweise 

Beispiel: Ableitung von Maßnahmen (z. B. Kennzeichnung von Stoffen oder Behältern, Definition von Anforderungen, Änderung der persönlichen Schutzausrüstung), eventuell Dokumentation im Jahresplan oder in einer Themensammlung 

 

Führen Sie die Briefings in kleinen Gruppen durch, vorzugsweise mit 6 – 10 Teilnehmenden. 

 

  • Beschränken Sie den Inhalt auf ein für alle Gruppenmitglieder relevantes Thema. Idealerweise lassen Sie die Gruppe dieses Thema selbst wählen.
  • Überlassen Sie die Moderation jemandem, der in dem Bereich qualifiziert ist, z. B. Sicherheitsfachleute, Sicherheitsbeauftragte oder Vorgesetzte.
  • Stellen Sie sicher, dass die Briefings regelmäßig stattfinden, sei es monatlich, vierteljährlich oder halbjährlich.
  • Begrenzen Sie die Dauer auf einen überschaubaren Zeitrahmen, im Idealfall  nicht länger als 30 Minuten.
  • Gewährleisten Sie, dass die Briefings relevant für das Arbeitsplatzszenario der Teilnehmenden sind.
  • Protokollieren Sie die Briefings, entweder mit eigens dafür vorgesehenen Formularen oder einer spezialisierten HSE-Softwarelösung.

Kleingruppenarbeit 

Kleine Arbeitsgruppen eignen sich ideal, um Wissen zu vermitteln und zu festigen, insbesondere zum Thema Gefahrstoffe. Ebenso wie die Sicherheitsbriefings sollten diese fokussierten Sitzungen regelmäßig stattfinden. Sie kosten die Mitarbeitenden nicht mehr als 10 – 15 Minuten Zeit. 

Als Grundlage für eine Sitzung kann eine ungeklärte Frage dienen, etwa um die Risiken bestimmter Gefahrstoffe zu ermitteln und geeignete Vorsichtsmaßnahmen zu definieren. Die Frage kann eine Diskussion einleiten, die die Mitarbeitenden zu eigenständigem Denken und zur Beteiligung an Gesprächen über Sicherheit anregt. Abschließend sollten die Teilnehmenden die wichtigsten Punkte auf einem Flipchart oder Whiteboard präsentieren. 

Durch Abfotografieren können Sie Ihren Dokumentationspflichten nachkommen. Zusätzlich sollten Sie sich von den Mitarbeitenden sowohl deren Anwesenheit als auch das Verständnis der besprochenen Inhalte bestätigen lassen.

Neudefinition Ihrer Schulungskultur 

Wenn Sie der Ansicht sind, dass Ihr Unternehmen von einer Neugestaltung der Sicherheitsunterweisungen profitieren könnte, ist die Einrichtung eines interdisziplinären Teams ein guter Ausgangspunkt. Hier arbeiten Management, operative Führungskräfte und Sicherheitsbeauftragte zusammen. Auch die Einbeziehung des Betriebsrats kann gegebenenfalls den Prozess bereichern. Es ist sinnvoll, eine spezielle Taskforce zu bilden, die sich ausschließlich mit der Reform der Gefahrstoffschulungen befasst. 

In einem ersten Schritt bewertet die Taskforce den bestehenden Schulungsrahmen. Als Nächstes sollte sie ermitteln, welche Elemente am besten in Sicherheitsbriefings, Kleingruppenarbeit bzw. anderen Schulungsmethoden behandelt werden können. Gleichzeitig sind eventuell organisatorische Änderungen vorzunehmen, wie die Anpassung von Schichtzeiten, die Qualifizierung von Moderatorinnen und Moderatoren oder die Standardisierung bestimmter Prozesse. 

Die endgültigen Entscheidung über die Zukunft der Gefahrstoffschulungen darf keinesfalls allein bei der Taskforce liegen. Im Zuge ihrer Initiativen sollte die Taskforce Entwicklungen und Änderungsvorschläge mit dem Ausschuss für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz oder einer entsprechenden Steuerungsgruppe teilen. 

Von oberflächlicher Einhaltung zu sicherem Verhalten 

Der sichere Umgang mit gefährlichen Chemikalien stellt einen wesentlicher Bestandteil eines nachhaltigen und erfolgreichen Unternehmens dar. Angesichts des wachsenden Drucks, nicht nur die Produktivität zu steigern, sondern auch die Umwelt zu schützen, ist es entscheidend, die Mitarbeitenden mit Wissen über den richtigen Umgang mit Gefahrstoffen an ihrem Arbeitsplatz auszustatten. 

 

Da konventionelle Schulungen oft hinter den Erwartungen zurückbleiben, braucht es neue Strategien wie Sicherheitsbriefings oder Kleingruppenarbeit, um Lerninhalte abzuspeichern und zu verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten. Mit solchen Strategien sorgt Ihr Unternehmen beim gesamten Personal für Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden und erzielt eine wirksame, nachhaltige Lösung, die über eine oberflächliche Einhaltung hinausgeht. So verankern Sie sicheres Verhalten in der DNA Ihres Unternehmens. 

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